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Predigt über Heb 4,14 - 16

am 25.5.2025
Sonntag Invocavit

Ort:
Betberg-Seefelden


Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,

Einleitung

Mich beschäftigt unsere diesjährige Jahreslosung sehr, besonders wenn ich auch die Verse davor und danach mit einbeziehe und so der "Losungslesefalle" entwische. Und so hatte ich die Idee, ich predige einmal unorthodox quasi unterm Jahr über die Jahreslosung. Ein guter Plan, dachte ich, bis ich entdeckt habe, dass ich über den für diesen Sonntag vorgesehenen Bibelabschnitt schon einmal gepredigt habe. So etwas macht mich immer neugierig. Und als ich dann noch feststellte, dass dies fast auf den Tag genau vor 27 Jahren war, wurde meine Neugierde noch gesteigert.

So habe ich nach einer Weile des Ringens meine Idee aufgegeben und habe mich dann für den für heute vorgesehenen Perikopenabschnitt entschieden. Aber es stellte sich mir auch die Frage: Was nun? Einfach nur so über denselben Bibelabschnitt nochmals zu predigen, womöglich die früheren Gedanken und Erkenntnisse einfach nochmals zum Besten geben? Geht das nach 27 Jahren überhaupt? Und was wäre wenn - hätte ich mich dann in dieser Zeit gedanklich, geistlich, menschlich, persönlich nicht mehr weiterentwickelt, wäre stehen geblieben?

Und so bin ich eingestiegen in die Auseinandersetzung mit dem Bibelabschnitt und meiner fast 30 Jahre alten Predigt.

- Text lesen: Hebr 4,14-16

Im Zentrum dieses Abschnittes steht für mich Vers 15. "Wir haben einen Hohenpriester der mit unserem Erleben und Empfinden mitfühlen kann." Wörtlich heißt es, dunámenon sumpathésai der Mitleid mit uns hat, der mit uns mit-leiden kann. sumpathésai - bisher dachte ich immer, sympathisch ist etwas anderes. Aber tatsächlich wurde früher das Wort sympathisch in diesem Sinne auch bei uns verwendet. Jesus blickt nicht nur teilnahmslos auf mich und mein Leben - mir geht dieser Satz runter wie Öl. Das trifft meine Bedürfnislage, da kommt mir dieser Gott ganz nah - auch heute noch, nach 27 Jahren.

Da fühle ich mich gut aufgehoben und verstanden. Und mir und uns wird auf die Frage nach Gott die Antwort gegeben: ja, da ist einer, der fühlt nicht nur mit uns mit, der kann auch mit uns mit-leiden, weil er unsere Lebenssituationen kennt, selbst durchlebt und durchlitten hat. Und hier ist er schon - wie vor 27 Jahren so auch heute - der erste Stolpergedanke.

Mit dem Skeptiker in mir frage ich: Wie kann das denn sein? Wie kann ein Mensch, der vor fast 2000 Jahren gelebt hat, sich meine Sorgen, meine Probleme vorstellen, der ich an der Grenze bzw. am Beginn des 21. Jahrhunderts lebe? Der hat doch keine Ahnung von Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, den Herausforderungen unserer Gesellschaft, den vielfältigen Bedrohungen und vielem mehr. Damals wie heute kann ich dieser Frage und Skepsis durchaus zustimmen. Meine Antwort damals wie heute: Es geht nicht darum, ob Jesus jede einzelne Lebenssituation aller Menschen durchlebt hat. Jesus kennt unsere Schwachheit (ásthéneia nicht àmartia). Und diese Schwachheiten teile ich an dieser Stelle in zwei Erlebenskategorien.1 Da möchte ich zum einen die existentiellen Nöte nennen, die Sorgen und Probleme, durch die wir uns in unserem Leben herausgefordert, vielleicht auch bedroht sehen, ich nenne sie Versuchungen. Zum anderen unsere Zweifel an Gott, ich nenne sie Anfechtungen. In diesen zwei Erlebenskategorien, so behaupte ich einmal, lassen sich nahezu alle unsere Probleme, Sorgen und Ängste zusammenfassen. Und das war zu Zeiten Jesu nicht anders wie in unseren Tagen.

Darum möchte ich drei Gedanken zu diesen Versen mit ihnen teilen:

1. Jesus kennt Versuchung.

2. Jesus kennt Anfechtung.

3. Jesus gibt Perspektive.

Zum ersten:

1. Jesus kennt Versuchung.

Zuerst einen Blick zurück, an den Anfang des Neuen Testaments. Da wird uns von der Taufe Jesu erzählt (Mt 3,13ff par). Jesus macht in einzigartiger Weise die Erfahrung der Zusage und der Nähe Gottes, wie sie wohl niemand von uns je gemacht hat. Gott bekennt sich zu seinem geliebten, Mensch gewordenen Sohn, an dem ER Wohlgefallen gefunden hat. Da denkt man doch, jetzt kann nichts mehr schief gehen. Auch wenn es im Anschluss in die Wüste geht - geführt vom Heiligen Geist sollte auch dort einem gelingenden Leben nichts mehr im Wege stehen. Vorbei die Zeiten der Entbehrung, vorbei die Zeiten des Mangels und der Anfechtungen. Aber es erwarten ihn nicht jubelnde Menschenmengen, wie auch in der Wüste. Sondern in der Wüste erwartet ihn der Teufel. Was dann geschehen ist, haben wir vor ein paar Minuten als Schriftlesung gehört.2

40 Tage ist Jesus in der Wüste als ihn hungerte. Aber ich denke mir, das war noch gelinde ausgedrückt, Jesus hungerte nicht nur, da war sein Leben bedroht und es bestand Gefahr, dass er verhungerte. Jesus erlebt, was es heißt, das Leben bedroht zu sehen. Wenn einem alle Felle wegschwimmen und nach menschlichem Ermessen kein Ausweg zu sehen ist.

Auch in unseren Tagen erleben Zeitgenossen und auch Mitchristen solche Grenzsituationen. Lebensphasen in denen die Lebensdecke dünn wird. Ich denke, dass dies einen Großteil der 5 Millionen arbeitslosen Menschen - so viele waren es vor 27 Jahren, im Februar diesen Jahres gab es in Deutschland ca. 3 Millionen Menschen ohne Arbeit - Tendenz steigend3 - dass es diesen so ergeht. Wenn das Ersparte allmählich zur Neige geht, die finanziellen Belastungen aber bleiben und viele nicht wissen, wie sie die Miete für den kommenden Monat bezahlen können. Es gäbe noch viele Beispiele anzufügen, die unerwartete Diagnose beim Arzt oder wie vor Kurzem eine meiner Töchter wohl stellvertretend für ihre Generation zu mir sagte, sie mache sich schon Sorgen wie das wird, mit der Klimaerwärmung und der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland, in Europa und der Welt.

Und genau diese Lebenssituationen kennt Jesus - nicht. Er lebte in einer anderen Kultur, Gesellschaft, politischen Verhältnissen als wir. Aber er weiß, was es bedeutet, Lebensangst zu haben und er kennt das Gefühl, wenn jetzt nichts geschieht, dann ist es mit mir zu Ende. Das Zweite:

2. Jesus kennt Anfechtung.

"Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." (Jes 43, 1) So hören wir das immer wieder, wenn wir in unseren Gottesdiensten taufen. Dieser Vers hat etwas bergendes und ermutigendes und so stellen wir ihn bei der Taufe - insbesondere bei Säuglingen oder Kindern - ziemlich an den Beginn eines Lebens generell oder eines Christenlebens. Wir verbinden damit den Wunsch, dass sich Gott dieses noch jungen Lebens annimmt und zu dessen Gelingen beiträgt.

Die Hoffnung, dass unser Leben mit Gott gelingt und möglichst alles glatt läuft prägt unsere Vorstellungen und Gottesbilder. Aber was, wenn nicht? Werden dann meist nicht Zweifel an der Fürsorge und Liebe Gottes laut und zerfallen unsere Gottesbilder oder werden eingetrübt?

Wenn nagende Zweifel und Skepsis mich umtreiben fragen wir, ob mich Gott immer noch verstehen, jetzt mit mir mit-leiden kann. Aber auch hier gilt die Aussage aus dem Hebräerbrief. Auch in diesen Situationen, in denen wir uns von Gott nicht verstanden und möglicherweise zutiefst verlassen fühlen kann der Mann aus Nazareth noch mit uns mit. Der Mann, bei dessen Taufe Gott vom Himmel sprach: "Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe." und der am Ende seines Lebens am Kreuz aus tiefer Erfahrung zu diesem Gott schreit: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?". Dieser Jesus, er versteht uns selbst dann noch, wenn wir an Gott ver-zweifeln. Er kann nachvollziehen und mitfühlen, wie ihnen und mir in solchen Situationen zumute ist. Natürlich ändert sich dadurch zunächst nichts an meiner Situation, heute wie vor 27 Jahren. Die Schwierigkeiten sind immer noch da und die Ängste und Sorgen bedrücken immer noch. Aber: ich weiß um einen, der mich nur zu gut versteht. An dieser Überzeugung hat sich bei mir in den letzten drei Jahrzehnten nichts verändert!

Die Anrede "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." (Jes 43, 1) ist ein Resonanzappell, so sagt es Hartmut Rosa4. Ich ergänze, ein Resonanzappell Gottes - aber möglicherweise hat das ROSA auch so gemeint. In unserem Leben kommt es dann darauf an, dass wir auf-hören und uns auf diesen Appell einlassen, in Resonanz gehen mit Gott. Jesus geht darauf ein auch am Kreuz, am Ende seines irdischen Lebens. Resonanzappell und Hinwendung zu Gott - wie eine Klammer meines Lebens.

Von hier öffnet sich für mich der Blick auf meinen dritten Gedanken, den ich mit ihnen teilen möchte:

3. Jesus gibt Perspektive.

Das ist gigantisch! Das kann ich nicht oft genug hören: "Mit Freimut zum Thron der Gnade, zum Thron Gottes hinzutreten." Wir leben in einer Zeit, in der wir gefühlt oder tatsächlich immer weniger oder keine Zeit haben, Zeit knapp ist. Ich erlaube mir nochmals einen Verweis auf Hartmut Rosa, der von einer Gesellschaft spricht, die sich in einem atemlos, rasenden Stillstand befindet.5 Diesem Umstand, dieses Gefühl des getrieben seins, der Rastlosigkeit können wir begegnen, in dem wir uns der Anrede, dem Aufruf Gottes zuwenden, auf-hören und so mit IHM in Beziehung treten.

Auch in meiner ursprünglichen Predigt hatte ich auf unser getrieben sein verwiesen, übervolle Terminkalender und Zeitdruck und keine Zeit haben, für mich und andere. In unserem Briefabschnitt begegnen wir ganz anderen Tönen und ich finde diese Zusage einfach umwerfend. Da wird uns ein freier Zugang versprochen, da erfahren wir von einem Gott der sich Zeit nimmt für uns, für mich, für jeden und jede Einzelne von uns. Hinzutreten, und das ohne Hemmungen, dann wenn es dran ist und mich die Not oder vielleicht auch die Freude treibt zu kommen. Hinzutreten mit der Gewissheit, dass da einer ist, der sich Zeit für mich nimmt, der mir zuhört, der ein offenes Ohr für mich hat und mich versteht. Hinzutreten in der Gewissheit ein Gegenüber zu haben, der mich und meine Situation versteht, weil er sie aus eigener Erfahrung her kennt und daher sumpathésai mit mir hat, mit mir mit-leiden kann6.

Schluss

Jesus hat sich dem Anruf Gottes immer wieder ausgesetzt, gestellt und ist in der Beziehung zu seinem himmlischen Vater geblieben, bis zum Ende. Dabei hat er Gottes Wirken erlebt. Und Jesus hat erlebt was es heißt als Mensch zu leben. Als Mensch zu leben zwischen Zuspruch, Anspruch und der Herausforderung auch in schwierigen Lebensphasen an Gott dran zu bleiben.

Daran möchte ich festhalten, nach wie vor, im Spannungsfeld zwischen Gottes Anrede an mich in meinen Lebensvollzügen meine Antwort geben und auf Gottes Anrede eingehen.

Amen.

- Es gilt das gesprochene Wort! -

Diese Predigt wurde verfasst von:
Karl-Heinz Rudishauser
Hartmattenstr. 17
79539 Lörrach
07621/425 09 26
eMail: karl-heinz.rudishauser(a)t-online.de

1 In der Psychologie wird oft von dem Bedürfnis nach Liebe und Sicherheit gesprochen. Ich denke, dass dies in dieselbe Richtung geht.
2 Mt 4,1-11
3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1224/umfrage/arbeitslosenquote-in-deutschland-seit-1995/ zuletzt aufgerufen am 8.3.2025
4 ROSA, Hartmut: Demokratie braucht Religion, Kösel-Verlag München, Penguin Random House Verlagsgruppe; 202411; S. 72f
5 derselbe a.a.O. S. 27, 46ff
6 Mt 7,7ff. 27,17

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